Vor einiger Zeit schrieb ich einen Artikel darueber, wie das beruehmte Milgram Experiment eigentlich zu interpretieren ist. Zur Erinnerung: es belegt NICHT das „inhaerent Bøse“ in jedem Menschen, sondern vielmehr, dass Menschen etablierten Autoritaeten folgen. In dem dazugehørigen wissenschaftlichen Artikel geht es auch im das beruehmte Stanford Prison Experiment. Da die Schlussfolerungen die gleichen (mich duenkt gar die selben) sind, ging ich darauf nicht weiter ein.

Nun stolperte ich vor Kurzem aber ueber den Artikel „Debunking the Stanford Prison Experiment“ von Thibault Le Texier in American Psychologist, 74(7), 2019, p. 823–839 … (hier in vollstaendig (PDF)). Dort legt der Autor dar, warum das gesamte Experiment mindestens wissenschaftlich fragwuerdig ist und mitnichten den hohen Stellenwert haben sollte den es sowohl in der Psychologie als auch in allgemeineren, gesellschaftlichen Kontexten hat.

Die ethischen Bedenken sind praktisch von Anfang an diskutiert worden.
Mir bisher nicht bekannt, wurde bereits 1975 bemaengelt, dass aus den Instruktionen an die Teilnehmenden vor dem eigentlichen Experiment, Letztere mit groszer Sicherheit erraten konnten, wie sie sich zu verhalten haben. Das fand man heraus, indem man Studenten besagte Instruktionen zu lesen gab (ohne weiteren Kontext) und diese sollten dann beschreiben, wie die Waechter bzw. Gefangenen sich zu verhalten haben:

[o]f the students tested, 81% accurately figured out […] that guards would be aggressive and that prisoners would revolt or comply […].

Das kann also definitiv NICHT mal als einfache Blindstudie angesehen werden.

Spaeter hinzu kamen Hinweise, dass die Teilnehmer vermutlich selbstselektiert waren (mit dem ganzen Rattenschwanz an Problemen fuer insb. psychologische Studien der daraus folgt). Ebenso nahm der Professor (namens Zimbardo, der natuerlich mit dem Experiment beruehmt wurde) die Rolle des Gefaengnisvorstehers (anstatt des auszenstehenden, neutralen Beobachters) an. Diesen Fakt liesz er aber wohl unter den Tisch fallen bei der Praesentation der Ergebnisse.

Der Verfasser des obigen Artikels hat sich nun durch die Originaldaten gearbeitet und weitere Hinweise darauf gefunden, dass dieses Experiment NICHT in die Psychologiebuecher gehørt sondern in die Geschichtsbuecher unter dem Stichpunkt „schlechte Wissenschaft“.
So zum Beispiel erzaehlten der Professor und seine Assistenten …

[…] the objectives of the experiment to the guards during their orientation day […].

Ebenso haben die Waechter die schlimme soziale Situation nicht spontan selbst „gebaut“ sondern …

[…] were given clear instructions for how to create it.

Im (verallgemeinerten) Sinne dessen was ich in meinem Artikel zum Milgram Experiment schrieb (Akzeptanz von Autoritaeten) ist die verherrschende Interpretation der Ergebnisse sehr sehr fragwuerdig, wenn man in Betracht zieht, dass …

[i]n order to get their full participation, Zimbardo intended to make the guards believe that they were his research assistants.

Aber nicht nur die Waechter wurden fuer ihre Rolle „praepariert“. Auch …

[t] he Prisoners were Conditioned by the Experimenters.

Und waehrend Zimbardo immer wieder behauptete, dass die Bedingungen urst realistisch waren (Zitate von ihm) …

[b]y the end of the week, the experiment had become a reality. […]

[I]n a very short time most of the subjects ceased distinguishing between their prison role and prior self-identities. […]

Findet der Autor des Artikels in den Rohdaten, dass …

[…] on the contrary, […] the participants almost never lost touch with reality and were conscious of participating in an experiment.

Da wundert es mich ueberhaupt nicht, dass Zimbardo sehr gerne mit den nicht-wissenschaftlichen Medien sprach war und die Schlussfolgerungen im Wesentlichen schon vor dem Ende des Experiments fertig geschrieben (und auf nichtakademische Ziele; Gefaengnisreform) gerichtet waren:

The press release that Zimbardo disseminated on the second [!] day of the experiment states in conclusion that it aimed at making us aware of the prison reforms needed […].

Und um die Liste voll zu machen wird auch noch Zimbardos Behauptung, dass die Resultate auf …

[…] systematic record keeping and data collection […]

beruhen zunichte gemacht. Der Autor fand vielmehr, dass die Daten …

[…] are neither complete nor uniform.

So fehlen Aufzeichnungen jeglicher Art (egal ob vom Professor selbst oder von seinen Assistenten) vom dritten Tag und von den 150 Stunden die das Experiment lief, gibt es weniger als 10 % auf Video- oder Tonaufnahmen. Und

[…] these 6 hr of video recorded during the experiment are unrepresentative […].

Das soll reichen. Alles in allem ist meine Interpretation, dass das Stanford Prison Experiment nicht nur fragwuerdig, sondern wissenschaftliche gesehen nutzlos, gar absichtlich irrefuehrend ist. Weil das aber so weit weg geht von der etablierten Meinung bin ich mehr als offen die Gegenargumente zu høren.
Hier gibt es wohl einige Gegenargumente von Zimbardo zu obigem Artikel. Leider habe ich darauf keinen Zugriff (und meine uebliche Quelle hat das leider auch nicht). Es gibt eine aeltere Version (PDF) die nicht direkt auf Le Texier eingeht (da vorher erschienen), aber einige der Punkte anspricht.
Le Texier gibt hier eine relativ bissige Antwort. Ich gebe zu, dass die nicht dem wissenschaftlichen Umgangston entspricht (weswegen das wohl auch nie offiziell in einem peer review Journal verøffentlicht wurde). Ich gehe aber nach dem was ich gelesen habe mit seiner Meinung mit, dass Zimbardo nur drumherum redet und die eigentlichen (wesentlichen!) wissenschafltichen Maengel nicht schafft auszuraeumen.

Der Artikel von Le Texier ist jetzt nur ein Artikel, scheint aber in einen grøszeren Zusammenhang zu fallen, in dem die Ergebnisse solcher (falschen!) Leuchtturmexperiment neu betrachtet und vøllig anders interpretiert werden. Es wird also nur noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis sowohl das Milgram Experiment, als auch das Stanford Prison Experiment ihren verdienten Platz im wissenschaftlichen Kanon einnehmen … naemlich als Datenpunkte in der Sektion „(langsame) Selbstkorrektur der Wissenschaft“.

Eine ganz andere Sache noch zum Abschluss, weil mir das am Herzen liegt:

[…] the [Stanford Prison Experiment] survived for almost 50 years [among other things] because no researcher has been through its archives. This was, I must say, one of the most puzzling facts that I discovered during my investigation.

Das wundert mich ehrlich gesagt ueberhaupt nicht. Es ist viel „sexier“ neue Behauptungen raus zu hauen als sich alte Sachen mal genau anzuschauen. Insb. dann, wenn es um scheinbar vom ganzen wissenschaftlichen Feld etablierte Fakten geht.
Das ist in der Wissenschaft nicht anders als auszerhalb davon. Unter anderem auch deswegen lese ich Originalartikel und will ab und zu auch gerne die Rohdaten haben um die selbst zu analysieren. Weswegen mein Plan fuer die Rente ja auch ist, dass ich versuche werde in den Archiven von Museen zu forschen :)  … aber das war’s nun wirklich fuer heute.

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