Neulich las ich einen voll tollen Artikel von Marco Del Giudice in The Quarterly Review of Biology 94 (4), 2019, p. 249–282 mit dem Titel „Invisible Designers: Brain Evolution Through the Lens of Parasite Manipulation“ … verfluchter MISTSCHEISZDRECK mit geschlossenen Journalen! … Wenn ihr, meine lieben Leserinnen und Leser den mal lesen wollt, dann leihe ich euch gerne meine Kopie … *hust*.
Wieauchimmer, der Verfasser argumentiert, dass die Beduerfnisse von Parasiten derart sind, dass die Gegenstrategien zu komplexeren Gehirnen fuehren. Aber der Reihe nach.
Zunaechst sei an diesen Beitrag erinnert; der Mensch lebte Millionen von Jahren mit Wuermern im Darm. Entsprechend stellte sich das Immunsystem auf deren staendige Praesenz ein, was im Wesentlichen eine permanente (wenn auch geringe) „Aktivierung“ desselbigen bedeutet. Die letzten paar Jahre aber schafften wir (als Menschheit) es, zumindest in einigen Gebieten endlich die Wuermer los zu werden. Und prompt ging die Anzahl der Autoimmunerkrankungen hoch. Ein paar davon sind genetisch, aber es gibt ernszunehmende Ueberlegungen dass das in Millionen von Jahren eingestellte Immunsystem ueberreagiert und den Kørper angreift. Letzteres, weil die Antikørper nicht mehr im Kampf gegen die Parasiten „verbraucht“ werden. Achtung: Ich vereinfache hier natuerlich!
Auszerdem hat das (fast) nichts mit dem zu tun worueber ich hier schreiben will. Aber wichtig daran ist, dass Parasiten und „Gastgeber“ sich parallel entwickeln.
Parasiten (so wie die hier) wollen ja nicht, dass der „Gastgeber“ / Wirt / das Opfer zu frueh stirbt oder sich des Parasiten entledigt. Ersteres bspw. durch Terminierung der Nahrungsaufnahme, Letzteres bspw. durch „an ’nem Stein reiben“, falls der Parasit auszen dran haengt. Deswegen muss das Verhalten des Wirtes gesteuert werden. Das Problem ist, dass das gar nicht so einfach ist. Die „Psychiaterwespe“ in einem der gegebenen Beispiele ist eine der krassen Spezialisierungen. Viel øfter sind Parasiten scheinbar unscheinbare Wuermer, oder gar nur Einzeller. Besagte Wespe is so komplex ist, dass sie Druesen hat, welche die Chemikalien ausscheiden die das Opfer willenlos machen. Solch komplizierte Organe stehen einfacheren Lebewesen nicht zur Verfuegung. Wie also kønnten diese das Verhalten des Wirts beeinflussen und was hat das mit unserem komplexen Gehirn zu tun?
Evolution passiert nicht von selbst, sondern weil es einen Selektionsdruck gibt. Bzgl. Gehirnen bedeutet das, dass nur der Mutant sich vermehrt, dessen Mutation das Gehirn davor schuetzt von einem Parasiten uebernommen zu werden. Del Giudice kommt nun auf vier grundsaetzliche Schutzmechanismen. Der Erste dieser Schutzmechanismen ist
[to] restrict access to the brain.
Da faellt einem natuerlich sofort die Blut-Hirn-Schranke ein, welche es erlaubt unabhaengige Bedingungen im Gehirn (und Rueckenmark) zu erhalten. So ziemlich alle høherentwickelten Lebewesen haben diese und die ist ziemlich effizient. Was im Uebrigen auch hinderlich sein kann, wenn man møchte, dass Medikamente das Nervensystem erreichen.
Die Blut-Hirn-Schranke ist sowohl eine physische als auch eine chemische Barriere. Ersteres ist dadurch zu erklaeren, dass die Kapillaren, welche bspw. Naehrstoffe ins Hirn transportieren, wirklich klein sind. Deutlich kleiner als in anderen Organen. Und Bakterien und Viren sind of viel zu grosz um da durch zu kommen. Oder anders, dies ist
[a] first line of defense against behavior-altering parasites […] to keep them out of the CNS [Central Nervous System].
Wenn Viren ins Gehirn gelangen, so „hangeln“ diese sich oft an den Nerven entlang. Sie umgehen die Schranke also um ins Gehirn zu kommen.
Eine chemische Barriere ist die Blut-Hirn-Schranke, weil sie beispielsweise fuer bestimmte Molekuele nur bestimmte „Eingaenge“ hat. Diese Eingaenge kønnen auch nur durch ganz spezifische Molekuele aktiviert werden.
Ein Parasit kønnte sich also derart entwickeln, dass dieser nicht selbst ins Gehirn will, sondern verhaltenssteuernde Chemikalien produziert. Ein einfaches Beispiel waere Alkohol, aber ich denke eher an Neurotransmitter. Ein Gehirn welches einen anderen Neurotransmitter benutzt wird somit immun gegenueber dieser Manipulation.
Die Chemie ist uebrigens nicht nur beim Gehirn wichtig. Das Immunsystem unterscheidet „Schaedlinge“ von „Nuetzlingen“ ebenso an bestimmten chemischen „Signaturen“. Entsprechend haben sich Parasiten derart entwickelt, die richtigen Molekuele an ihrer Oberflaeche zu haben, um unerkannt zu bleiben.
Glycine sind einer Gruppe solcher Molekuele und …
[p]arasites can mimic the composition of host glycans to escape immunedetection, synthesize toxins that bind to specific glycans expressed by the host, or exploit glycans as attachment and entry points into the host cells.
Und weiter:
[c]onflict with parasites may explain why glycans tend to evolve rapidly.
Eine anderer Schutzmechanismen der unter diese Kategorie faellt sind Kødermolekuele:
molecules that mimic those exploited by parasites, but fail to perform the same function or even trigger a defensive response when bound.
Cool wa!
Die naechste grosze Gruppe von Schutzmechanismen ist
[to] increase the costs of manipulation.
Konkret bedeutet dies, dass entweder „riesige“ Mengen eines Neurotransmitters benøtigt werden um eine Verhaltensaenderung hervor zu rufen, oder dass besagte Molekuele giftig sind. Ersteres ist ein Grund ein Gehirn grøszer zu machen. Eine paar Bakterien oder Pilzsporen produzieren genuegend von diesen Chemikalien um das kleine „Gehirn“ einer Ameise zu manipulieren. Aber bei ’nem Hamster waere das dann viel zu wenig.
Letzteres ist tatsaechlich der Fall. Ich schaute mal kurz bei den mir bekanntesten Neurotransmittern (Serotonin, Noradrenalin (ebenso Adrenalin), Histamin, Dopamin) und die sind alle als Gefahrenstoffe gekennzeichnet! Zum Teil mit Totenkopfsymbol. … … … Wait! What? Wir benutzen Gift als aktiven Teil dessen was uns ausmacht!? Ach du meine Nase!
Davon abgesehen, dass es zunaechst total unlogisch erscheint, Gift im Gehirn als unabkømmlichen Baustein zu benutzen, ist das eigentlich auch voll logisch. Eine høhere Gehirnmasse erhøht auch die letale Dosis dieser Neurotransmitter. Ein Einzeller, selbst viele Einzeller, schaffen es nicht dies zu produzieren ohne sich selbst umzubringen.
Und es wird noch spannender:
There is evidence that several enzymes involved in the synthesis and metabolism of dopamine, nitric oxide, and other neurotransmitters in animals originate from bacteria, and were acquired through horizontal gene transfer […].
Animals have a long history of co-opting microbes (and/or their genes) to combat other microbial species.
Oder anders: vor Urzeiten haben Mikroben sich so entwickelt, dass sie bspw. Dopamin ausscheiden um andere Mikroben aus ihrer Umgebung zu vertreiben. Die dafuer zustaendigen „Plaene“ wurden dann ins Genom anderer (auch deutlich høher entwickelter) Lebewesen aufgenommen.
So langsam wird euch, meinen lieben Leserinnen und Lesern, bestimmt klar, warum ich diesen Artikel so toll finde! Øffnete dieser doch die Tuer zu einer voll spannenden Welt!
Als dritte grosze Gruppe von Schutzmechanismen nennt Del Giudice
[to] increase the complexity of signals.
Zur Erklaerung zitiere ich die exzellente Zusammenfassung hochkomplexer Mechanismen aus dem Artikel:
From a computational perspective, neuroactive substances function as internal signals that transmit information between neurons, between different networks within the brain, and between the brain and other organs and tissues. Parasites can hijack a signaling pathway by producing new signals or corrupting existing ones; in either case, they need to “break” the code employed by the host. The same applies to parasites that eavesdrop on the host’s chemical signals. Since complex communication codes are harder to mimic and subvert, the host can increase the complexity of signals as a countermeasure against manipulation […].
Ein Weg dies zu tun ist die Anzahl der Chemikalien zu erhøhen, welche benøtigt werden, um eine Reaktion (bspw. die Produktion von Galle, oder die Aktivierung einer Gehirnzelle) auszuløsen. Und tatsaechlich, es gibt ’ne ganze Menge Signalmolekuele (die Liste hinter dem Link ist unvollstaendig; es gibt hunderte und nicht nur die paar dort aufgelisteten).
Dies bedeutet nicht nur, dass verschiedene Signalmolekuele benøtigt werden, fuer verschiedene Reaktionen. Die Komplexitaet kann auch (massiv) erhøht werden, wenn mehrere unterschiedliche Signalmolekuele nøtig sind, um eine Reaktion auszuløsen. Wenn bspw. eine Nervenzelle tut was sie tun soll, dann wird da nicht nur ein Neurotransmitter ausgeschuettet, sondern ein ganzer Cocktail.
Das ist zwar alles sehr energieaufwaendig (und die Evolution verhindert gnadenlos alles, was Energie braucht und nicht nøtig ist), aber
[…] combined signals are harder to mimic, making the system less vulnerable to hijacking.
Eine weiterer Mechanismus in dieser Kategorie ist die gepulste, also nicht konstante, oder einmalige, Ausschuettung von Signalmolekuelen. Verschiedene Molekuele haben verschiedene „Perioden“. Insulin wird innerhalb von Minuten nach der Nahrungsaufnahme produziert. Melatonin (welches den Schlaf-Wach-Rythmus regelt) hat eine Periode von vielen Stunden und Geschlechtshormone (bspw. Østrogene) von Wochen.
Ein Parasit kann nun diese Molekuele produzieren, aber der Kørper reagiert nicht mit der gewuenschten Reaktion darauf.
Als konkretes Beispiel fuer gepulste-Hormone-tun-was-konstante-aber-nicht nehme man den Wirkmechanismus der Antibabypille. Vereinfacht (!) gesagt enthalten diese ein Østrogen. Ein kurzer Østrogen-„Puls“ løst den Eisprung aus. Ist der Østrogenspiegel aber dauerhaft erhøht, so wird der Eisprung durch negative Rueckkopplung unterdrueckt.
Beim richtigen Funktionieren des Gehirns spielt dieser Mechanismus mglw. auch eine wichtige Rolle. Neurotransmitter werden naemlich nicht nur ausgeschuettet sondern auch wieder aufgenommen. Bei Menschen die an Krankheiten des Geistes leiden, funktioniert das oft nicht wie es soll. Das ist sicherlich ein Grund, warum selektive Serorotonin Wiederaufnahmehemmer so erfolgreich sind besagte Krankheiten zu behandeln.
Als letzte grosze Kategorie von Schutzmechanismen nennt Del Giudice
[to] increase robustness.
Im Gegensatz zu den obigen Mechanismen zielt dieser darauf ab, dass sich das Verhalten des Wirtes auch dann nicht aendert, wenn ein Parasit Zugriff auf’s Gehirn bekommt. Es handelt sich also um Schadenskontrolle. Diese kann passiv, reaktiv oder proaktiv sein.
Passive Schadenkontrolle wuerde darauf abzielen, dass gewisse Komponenten eines Systems redundant oder modular sind. Redundanz ist logisch, denn …
[w]hen multiple components perform identical or overlapping tasks, the system becomes more resistant to damage and failure.
Ebenso ist Modularitaet leicht zu verstehen, denn diese kann …
[…] promote robustness by decoupling the functions of different components (functional modularity) and/or separating them in space (anatomical modularity). In modular systems, the effect of per-
turbations can be contained and isolated, so that the system as a whole maintains a degree of functionality even if one of the components fails.
Ein Beispiel fuer Redundanz und Modularitaet waeren der Geruchs- und Geschmackssinn. Beide sind definitv dazu da giftiges Zeug nicht zu essen. Faellt einer dieser Sinne aus, ist diese Funktion zwar eingeschraenkt, aber nicht komplett verschwunden.
Reaktive Robustheit waeren bspw. negative Rueckkopplungsschleifen. Ganz allgemein ist damit gemeint, dass Størungen weg vom optimalen Punkt (das muss nicht notwendigerweise ein Equlibrium sein!) detektiert und dann korrigiert werden. Letzteres bspw. durch Ausschuettung anderer Hormone oder Signalstoffe.
Del Giudice spekuliert ueber einen anderen denkbaren reaktiven Mechanismus:
If signals are carried by partially redundant pathways, the brain may respond by silencing or attenuating the suspicious pathway — effectively switching its internal communications to safer and plausibly intact channels.
Fancypancy wa!
Ein proaktiver Mechanismus ist møglicherweise die ganz oben erwaehnte permanent erhøhte Immunantaktivitaet aufgrund der staendigen Praesenz von Wuermern im Darm. Das ist zwar nicht direkt mit dem Gehirn verbunden, veranschaulicht aber den generellen Vorgang. Wuermer im Darm sind NICHT gegeben, werden aber erwartet. Diejenigen Lebewesen, die eine Mutation haben, die permanent darauf eingestellt ist gegen Wuermer im Darm vorzugehen, haben also einen evolutionaeren Vorteil.
Nicht auf Basis von Individuen aber auf Basis von Gesellschaften (nicht nur menschlichen) waere ein anderes Beispiel, dass der Umgang mit kranken Mitgliedern besagter Gesellschaft vermieden wird um eine Ansteckung zu vermeiden. Dafuer muss aber nach auszen ersichtlich sein, dass ein Lebewesen krank ist.
Da denkt man dann daran, wie schlecht man sich fuehlt, wenn man die Grippe hat. Aber diese Verhaltensaenderung des Kørpers ist mitnichten nur wegen der Krankheit selber. Eine HIV-Infektion ist unsichtbar bis AIDS sich entwickelt. Leute mit Krebs zeigen oft keine Symptome bis es zu spaet ist. Der Kørper eines Lebewesen muss also das Verhalten bei Krankheit aktiv aendern, damit andere Mitglieder der Gruppe das erkennen. Solch eine Reaktion musste sich erstmal entwickeln und waere natuerlich reaktiv fuer das Individuum an sich, aber proaktiv fuer die Gesellschaft.
Soweit dazu. Ich kann es ausdrueklich empfehlen diesen Artikel zu lesen! Da stehen soooo viel interessante und spannende Sachen drin und hier schrieb ich nur ueber ein paar wenige (generelle) Aspekte.
Zum Abschluss møchte ich sagen, dass all die oben erwaehnten Mechanismen nicht helfen, wenn der Parasit einen Stachel hat, mit dem er die Blut-Gehirn-Schranke direkt ueberwinden und riesige Mengen an bewusstseinsveraendernden Chemikalien direkt ins Gehirn pumpen kann … so wie die Psychiaterwespe. … … … Zum Glueck bin ich keine Kakerlake.