Neulich stolperte ich ueber einen Artikel mit dem Titel „Judgments About Fact and Fiction by Children From Religious and Nonreligious Backgrounds“ in Cognitive Science, Volume 39, Issue 2, 2015, Seiten 353–382.
Dort wurden 5- und 6-jaehrigen Kindern Geschichten erzaehlt. Danach fragte man die Kinder ob die Charaktere in den Geschichten echte (wie bspw. Robespierre) oder erfundene (wie bspw. Bilbo Beutlin) Menschen waren.
Im Wesentlichen konnten die Kinder in zwei Gruppen eingeteilt werden: durch Eltern und/oder Schule, religiøsen Einfluessen ausgesetzte Kinder und solchen die dem nicht ausgesetzt waren.
Von frueheren Studien wusste man bereits, dass religiøse Kinder glauben, dass Geschichten echt sind, wenn ein „Gott“ mitspielt. (Nebenbemerkung: Da mir dieses Wort auf vielen Ebenen nicht passt, ich es der Kuerze und den bekannten Assoziationen wegen aber irgendwie schon benutzen møchte, werde ich im Weiteren „Gøttin“ schreiben.)
Das haette ich erwartet, aber wie ich schon mehrfach schrieb: es ist wichtig, dass mit wissenschaftlichen Methoden die Ueberlegungen des „gesunden Menschenverstandes“ untersucht werden, denn oft genug liegt dieser falsch!
Deswegen untersuchten die Autoren der Studie,
[…] how children with no systematic exposure to religion in either church or school would respond to religious stories.
Fruehere Untersuchungen fanden heraus, dass …
[…] in the absence of a religious education, children will regard miracles as implausible because they involve ordinarily impossible outcomes.
Und deswegen sollten die Kinder zu dem Schluss kommen, dass …
[…] the protagonist in a story that includes a miracle is a fictional character rather than a real person.
Im Zusammenhang bedeutet dies:
[…] the judgments of such secular children should diverge sharply from these made by children who have received a religious education
Bis hierher auch nicht Neues. Nun kommt aber etwas, was mich vom Hocker gehauen hat.
[…] theorists studying religious development have emphasized a different possibility. They have proposed that young children have a natural inclination to believe in beings with extraordinary powers.
DA FUCK! Da versuchen „die“ doch tatsaechlich die „Gøttin“ in unsere Gene zu schreiben.
Mich duenkt ich las oder hørte Noam Chomsky sagen, dass es gute Indizien dafuer gibt, dass die zugrundeliegenden sozialen Prozesse welche auch zur Bildung von Religionen fuehren, evolutionaer von Vorteil fuer die Menschheit waren. „Sozial sein und und die Naehe zu anderen Menschen suchen“ ist uns also mglw. tatsaechlich in die Gene geschrieben. Aber das ist etwas ganz anderes, als dass man von sich aus an eine „Gøttin“ glauben will.
Wieauchimmer, es ist eine wissenschaftliche These, denn sie kann falsifiziert werden:
[o]n this view, secular children should not differ radically from religious children in their judgments about biblical stories. In particular, they should accept that a real protagonist might be involved in a miraculous event.
Soweit zur „Vorgeschichte“.
Die Kinder wurden mit drei verschiedenen Arten von Geschichten praesentiert.
[…] (a) realistic stories that contained no magical elements; (b) religious stories that included miracles brought about by divine intervention; and (c) fantastical stories that included magical elements but no divine intervention.
Ein Beispiel waere, dass eine kranke Person von einem Arzt (a), von „Gøttin“ (b) oder von einer Fee (c) geheilt wurde.
Wie zu erwarten (?), waren alle Kinder …
[…] significantly above chance in categorizing realistic characters as “real.”
Auch nicht ueberraschend ist, dass religiøs erzogene Kinder …
[…] were significantly above chance in categorizing religious characters as “real.”
Ebenso in mein Erwartungsbild passt, dass
[…] secular children were significantly below chance in categorizing religious characters as “real” (i.e., they judged them to be pretend).
Aber dies ist natuerlich entgegen der oben geaeuszerten These:
This sharp discrepancy between children with and without exposure to religion lends no support to the hypothesis that children are “born believers” […] with a natural credulity toward extraordinary beings with superhuman powers.
Und abschlieszend war auch dies voraus zu sehen:
[…] children were inclined to judge fantastical characters as “pretend,” […]
Ueberraschend aber der zweite Teil dieses Satzes:
[…] but this tendency was only significant for the […] children attending public school—especially those who were non-churchgoers.
Das møgen sich meine lieben Leserinnen und Leser mal durch den Kopf gehen lassen.
<Zeit um sich das durch den Kopf gehen zu lassen>
Die Bedeutung dieses Resultates ist, dass religiøse Kinder an Magie auch dann glauben, wenn „Gøttin“ nicht mitspielt!
DAS! IST! SO! KRASS!
Und warum finde ich das krass? Ich ging zwar nicht davon aus, dass irrationaler Glauben nicht mehr vorkommt, aber Zauberei (?!), das fuehlt sich fuer mich wie Mittelalter an.
Wenn man den konkreten Zahlen genauer folgt, kommt man zwar zu dem Schluss, dass religiøse Kinder nicht unbedingt „glauben“, dass magische Charaktere real sind, aber sie sind sich unsicher! Deswegen raten sie ob eine Person in einer solchen Geschichte real oder ausgedacht ist. Diese Kinder haben also nicht die geistigen „Werkzeuge“ um das richtig einzuschaetzen! Deswegen das Raten.
Eine Erklaerung die von den Autoren gegeben wird ist aehnlich:
[…] these children make use of their familiarity with biblical stories in conceptualizing fantastical stories.
Wenn man sich das aber mal durchdenkt, ist diese Erklaerung aber eigentlich noch schlimmer. Sagt sie doch aus, dass diesen Kindern von ihren Eltern die _falschen_ Werkzeuge mit auf den Weg gegeben wurden!
Oder exakter in Form einer Hypothese ausgedrueckt:
It is possible that religious teaching […] leads children to a more generic receptivity toward the impossible, that is, a more wide-ranging acceptance that the impossible can happen in defiance of ordinary causal regularities.
Die Gegenhypothese waere, dass die Kinder „weil Gøttin und so“ sagen, weil sie mit den Hintergruenden in den Geschichten (bspw. eine Person die ueber’s Wasser geht) vertraut sind.
Nun ja, wegen Wissenschaft und so, wurde dies ebenfalls untersucht. Ich erspare euch, meinen lieben Leserinnen und Lesern, die Details an dieser Stelle und springe gleich zum Ergebnis: es ist wahrscheinlicher, dass die erste Hypothese wahr und die Gegenhypothese falsch ist.
Oder genauer:
[…] secular children, who had no exposure to such an [religious] education, systematically concluded that the protagonist in fantastical stories is pretend and justified that decision by reference to the impossibility of the story events. By contrast, children who had been exposed to religion via church or parochial schooling did not systematically conclude that the protagonist was pretend, and made fewer appeals to the impossibility of the story events.
Das ist schon erstaunlich. Aber um wirklich sicher zu gehen, wurde vorher getestet, ob so junge Kinder ueberhaupt den Unterschied zwischen „ausgedacht“ und „echt“ ueberhaupt verstehen. Fruehere Studien bestaetigen dies und auch hier fand man wieder heraus, dass …
[f]ive- and 6-year olds’ […] grasp the fundamental distinction between real and fictional people.
Als kurze Nebenbemerkung: das find ich VØLLIG krass! Denn das hørt sich erstmal total grundlegend an, aber damit zusammen haengen ziemlich komplizierte kognitive Faehigkeiten:
[…] children come to understand stable regularities concerning: (a) inanimate physical objects, for example, that physical objects retain their identities over time and that one solid object cannot pass through another […]; (b) biological organisms, for example, that biological organisms can grow in size over time but not shrink […] or get older over time but not younger […]; and (c) mental processes, for example, that seeing an object requires an unobstructed line-of-sight […] or that thinking typically involves a single, unstoppable stream of thoughts […].
Ich sag ja: eine krasse Leistung solch junger Menschen!
Damit im Zusammenhang steht dann auch dies hier:
Children’s conceptualization of the physical, biological, and mental domains should enable them to identify some of the outcomes and transformations they encounter in narratives as impossible, and to differentiate between what can happen in real life and what can happen in a fairy tale.
Und dieser Faehigkeit ist (wenigstens teilweise) „kaputt“ in religiøsen Kindern.
Die armen Kinder! Denen wird von ihren wichtigsten und ersten Vertrauenspersonen erzaehlt, dass Dinge die sie eigentlich als fuer nicht møglich erkennen eben doch „wahr“ sein sollen (so wie mit zwei Brøtchen Tausend Leute satt machen). Da wundert es mich ueberhaupt nicht, dass sie verwirrt sind und raten, ob eine Person die Magie anwendet echt ist oder nicht.
Weiter nun!
Secular children […] adopted a dichotomous […] view of narratives and their characters, thinking of them as either fictional or factual. Contrary to what might be expected if children were “born believers” […] or possessed a “belief instinct” […], they treated stories of the miraculous as akin to fairy stories.
Und in dem Zusammenhang kommt mir das hier bekannt vor:
Indeed, some secular children displayed an attitude of active skepticism toward religion. They referred to God to justify their categorization of a story protagonist as pretend.
.oO(Tihihihi)
Genau deswegen stellt sich dann aber die Frage:
How exactly do religious children come to have a broader conception of what can actually happen than secular children?
Zwei prinzipielle Antworten sind møglich.
Die Erste waere da:
[…] exposure to religious teaching might encourage children to entertain the idea that some agents are endowed with a special or superhuman power that can override ordinary causal regularities.
Und die Zweite:
[…] children are disposed to credulity unless they are taught otherwise by their families. Thus, secular children are schooled in the idea that natural laws preclude any kind of miraculous or magical outcome.
Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass …
[…] recent findings lend more support to the first hypothesis than the second.
Das wuerde aber bedeuten, dass NICHT nicht die religiøse „Ausbildung“ an und fuer sich fuer das „nicht-richtig-funktionieren“ dieser Kinder verantwortlich ist. Ich denke, dass dies vielmehr bedeutet, dass bestimmte Ideen mehr „Schaden“ anrichten bei der Entwicklung von Kindern zu rationalen Wesen als andere. Nur diese Ideen sind heutzutage und auf diesem Planeten zutiefst mit religiøsen Lehren verbungen. Deswegen kann man das auch „in einen Topf werfen“.
In other words, it is more plausible that a religious upbringing overcomes children’s pre-existing doubts about whether ordinarily impossible events can occur than that a secular upbringing suppresses children’s natural inclination toward credulity.
Oder anders:
[…] religious instruction helps children to engage in such imaginative reflection with respect to impossible events as well. Thus, it prompts them to think about ways an otherwise impossible event could happen even if their immediate intuition is that it could not.
Zum Abschluss schreiben die Autoren dann, dass …
[…] the environment in which children are raised has an important influence on the way they process and categorize the narratives that they encounter.
Da konnte ich mir dann beruhigt selber auf die Schulter klopfen.
Dies hielt ungefaehr zwei Sekunden lang an. Dann kam mir der Gedanke, dass religiøse Menschen genauso ernsthaft, echt und wahrhaftig an „Gøttin“ glauben, wie ich an die Nichtexistenz derselbigen. Oder wie ich an die Wichtigkeit von Privatsphaere. Oder … oder … oder … etc. pp.
Oder wie es ziemlich am Anfang des Artikels steht:
[…] [W]hen an adult testified that an ordinarily impossible event had taken place, or would take place, children accepted that testimony and acted upon it. […] research […] suggests that they accept adults’ claims about ordinarily impossible outcomes.
Inwiefern spielt es also eine (mglw. schaedliche?) Rolle wie ich meine persønliche Realitaet wahrnehme, wenn es um die Erziehung des jungen Mannes der bei mir wohnt geht?
An dieser Stelle soll jetzt kein Ausflug in den Poststrukturalismus folgen. Ich denke zwar, dass dies durchaus angebracht waere, es wuerde aber zu weit fuehren.
Aber ich møchte hier gern zwei Beispiele anbringen ueber die ich stolperte, die sehr gut das illustrieren, was ich meine.
Zum ersten waere da meine (bisherige) Wahrnehmung uber das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989. Nachdem ich den hier ausfuehrlich vorgestellten Artikel gelesen hatte, las ich eine Darstellung, wie junge Chinesen das Ereignis sehen. Und das war dann doch ein bisschen anders als das was ich bis dahin fuer die unumstoeszliche Realitaet hielt.
Da ich dort dann mehr las, wurde auch gleich noch meine Wahrnehmung bezueglich gewisser gesellschaftlich, partizipatorischer Prozesse herausgefordert.
Thomas Fischer drueckt es in einem Artikel mit dem Titel „Von der Wahrheit, der Lüge und der Wirklichkeit“ so aus:
Was möchten wir? Differenzierung. Das ist: Rationalisierung, Vernunft, Überprüfbarkeit von Argumenten. Anerkennung des Fremden wie des eigenen Andersseins.
Aber am Besten schreibt es Eliezer Yudkowsky in dem Essay „Cognitive Biases Potentially Affecting Judgment of Global Risks“ (PDF):
[The ability] to detect a wide variety of logical flaws […] must be applied evenhandedly [sic]: both to our own ideas and the ideas of others; to ideas which discomfort us and to ideas which comfort us. Awareness of human fallibility is dangerous knowledge if you only remind yourself of the fallibility of those who disagree with you. If I am selective about which arguments I inspect for errors, or even how hard I inspect for errors, then every new rule of rationality I learn, every new logical flaw I know how to detect, makes me that much stupider. Intelligence, to be useful, must be used for something other than defeating itself.
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