Der Artikel „Glaciers, gender, and science: A feminist glaciology framework for global environmental change research“ von Mark Carey et al., erschienen in Progress in Human Geography, 2016 ist leider nicht frei verfuegbar. Wer den aber dennoch lesen will, kann mich fragen, ich habe den Volltext hier.
Und ich denke, dass er den Artikel ueberhaupt nicht gelesen hat. Jedenfalls nicht mehr als die Zusammenfassung.
Nachdem ich diese gelesen hatte, entsprach meine erste Reaktion dem was er dazu schrieb:
Markovketten-Papergenerator
Und wenn man sich nur die Zusammenfassung durchliest, dann ist dieser Eindruck auch durchaus berechtigt.
Da ich keine Ahnung von sowas habe, dachte ich mir dann aber, dass ich mir mal die Muehe mache und den ganzen „Bullshit“ lese.
Und muehevoll war es. Liegt doch alles dort Beschriebene so abseits meiner eigenen Erfahrungswelt. Ich konnte das immer nur in kleinen Abschnitten lesen und brauchte mehrere Tage fuer den gesamten Artikel.
Aber je mehr ich las, desto mehr bekam ich den Eindruck, dass fefe sich in seinem Narrativ verfangen hat und nicht rauskommt.
JA, der Artikel verwendet Sprache ueber die wir uns (zu Recht) laecherlich machen. Ein paar Gedanken dazu weiter unten.
JA, im Artikel sind so einige Stellen, wo man sich fragt, ob das nicht zu weit getrieben wird, ABER …
Ich denke, dass der Artikel sehr professionel auf bestehende Dinge hinweist und sagt warum das schlecht ist. Dummerweise wird heutzutage vieles davon unter dem Begriff „Feminismus“ zusammengefasst und unsere (jedenfalls meine) Beissreflexe werden aktiviert.
Dieses „sichtbar machen“ besagter bestehender Dinge findet in dem Artikel aber gerade NICHT unter dem Aspekt „alle Maenner sind scheisze“ statt, sondern vielmehr unter dem Aspekt: „So wie es ist, sind wir sehr weit gekommen, ABER uns geht viel Wissen verloren, wenn wir nicht mal unter einem anderen Blickwinkel auf (in diesem Fall) die Gletscher schauen.“
Es handelt sich hierbei auch nicht um ein „140-Zeichen-Thema“ und es ist notwendig, genannte „bestehende Dinge“ im Detail zu beschreiben. Das wirkt dann møglicherweise wie ein „auf den Maennern rumhacken“.
Ich aber meine, dass dies auch eine grosze Staerke des Artikels ist. Jedenfalls wenn man Leser wie mich in Betracht zieht.
Dadurch, dass ich keine Ahnung habe, bzw. noch viel mehr, weil ich mich in meinem eigenen Narrativ so pudelwohl fuehle, ist eine detaillierte Betrachtung sehr vorteilshaft.
Sehr konkret (und sehr viel, aber nicht nur) geht es in dem Artikel darum, dass man die Gletschergeschichten der Urbevølkerung analysieren sollte um noch mehr Informationen ueber Gletscher und deren Verhalten zu erfahren, dass die momentane Methode der Forschung dies aber ueberhaupt nicht auf dem Tapet hat.
Als Physiker dachte ich zunaechst: „Jaja … die Soziologen muessen ja auch irgendwie ihren Bedarf fuer Funding erklaeren“. (Man beachte bitte, dass ich groszen Respekt vor Soziologen habe und dies eher die bestehende Wissenschaftsfoerderung kritisiert. Aber das møchte ich hier nicht vertiefen.)
Und nun muss ich kurz etwas anderes erzaehlen.
Ich lese z.Z. ein Buch ueber Wolken: The Cloudspotter’s Guide. Viele schøne Erklaerungen und Geschichten fuer interessierte Menschen, die nicht als Meteorologen ausgebildet sind. In kurz: Wissenschaft … cool!
Und Wetter … das ist urst wichtig! Natuerlich nicht fuer unseren Sommerurlaub, sondern fuer die Kartoffeln und das Brot, was wir jeden Tag essen. Und auch immer mehr fuer den Strom aus der Steckdose. Wollen wir doch nicht, dass Windturbinen bei zu starkem Strom kaputt gehen.
Und dann las ich, dass man erst NACH dem 1. Weltkrieg Erklaerungen fand, warum sich das Wetter verhaelt, wie es sich verhalt.
Dabei wurde das Barometer bereits 1643 erfunden und auch zur Wettervorhersage benutzt. Weil man aber nichts so richtig mit den Messungen anfangen konnte, waren die Vorhersagen eher so „Vorhersagen“.
Nach dem 1. Weltkrieg haben dann Forscher (so weit ich weisz, waren da keine Forscherinnen dabei) in Bergen mal nicht nur auf die etablierten Barometermessungen geschaut, sondern sie haben ihren Kopf in die Luft gestreckt (also im Wortsinne eine neue Perspektive auf eine alte Sache geworfen). Sie haben (wieder) herausgefunden, wie sich die Wolkenformen zum Wetter verhalten und warum das so ist. Hier kam dann das ganze „Hochdruck, Tiefdruck, Wetterfront etc.“ her. Erst damit wurden Wettervorhersagen ueberhaupt møglich.
Hintergrund war uebrigens, dass die Bauern in Norwegen (aber natuerlich nicht nur da) so gut wie møglich Bescheid wissen muessen ueber das Wetter und deswegen wurde die Forschung vom Staat geførdert. Zu dem Zeitpunkt war naemlich eine Hungersnot, es ging also wirklich um Leben und Tod.
Eine schøne Geschichte, nicht wahr. Warum erzaehle ich das? Nun ja, es ist so, dass bereits seit Aristoteles (!) Geschichten existieren, welche die Form der Wolken, mit dem Wetter in Verbindung bringen.
Die „Folklore der Ureinwohner“ haette also schon viel eher erfolgreichere Ernten ermøglicht! Diese Geschichten wurden aber laecherlich gemacht und nicht weiter verfolgt, weil es nicht in das Schema der etablierten Wissenschaften passte. Geschichten kann man nicht messen und deswegen ist das Mist. Heutzutage kann man Geschichten uebrigens „vermessen“, aber das ist ein anderes Thema.
Und hier ist dann der Zusammenhang zum Artikel ueber den fefe schimpfte.
Unsere Arroganz als Wissenschaftler, oder mglw. vielmehr der Erfolg unserer Methode, macht uns blind fuer alles was nicht in eben diese Methode passt.
Dabei ist doch gerade die Wissenschaft dazu da,
[…] to unsettle […] assumptions, narratives, and representations […]
(Zitat aus dem Artikel).
Und genau aus diesem Grund: Be an inspiration (to others) …
Zum Abschluss dann noch die oben erwaehnte Sache mit der Sprache.
Wie meinen lieben Leserinnen und Lesern bekannt sein duerfte, bin ich Physiker.
Vor ueber einem Jahrhundert hatten wir das Problem, dass wir viel beobachteten, was wir nicht erklaeren konnten.
Das Problem lag nicht in den Erklaerungen selber. Dafuer brauchte man „nur“ ein paar schlaue Leute und soooo schwer wie alle Welt glaubt ist das Grundlegende gar nicht.
Das eigentliche Problem war, dass wir ueberhaupt keine Begriffe fuer die zugrundeliegenden Mechanismen hatten (Welle-Teilche-Dualismus, Quanten, Quantensprung, E = mc2 usw. usf.). Deswegen konnten wir da nicht drueber reden und deswegen konnten wir das auch nicht erklaeren.
Das eigentlich Bahnbrechende und Spannende in dieser Zeit, als die Quantenmechanik entwickelt wurde, war dieses Entstehen neuer Begriffe. Wie wir unseren Narrativ erweitert haben. Wir haben NICHT ueber unseren Tellerrand geschaut. Wir haben aber unseren Teller deutlich grøsser gemacht.
Semmelweis stand uebrigens vor genau dem gleichen Problem und die Aerzte haben ihn ausgelacht. (Apropos Semmelweis … Ich frage mich ob die aeuszere Aehnlichkeit zwischen ihm und Dr. Zoidberg Zufall ist.)
Und genau dieses Problem sehe ich in der Diskussion die mit „Feminismus“, „Frauenførderung“ etc. umschrieben wird.
Das sind zwei Begriffe aus der „alten Welt“. Einer „einfacheren“ Welt. Einer Welt, die so arge Probleme hatte, dass diese durchaus adaequat mit dem Wort „Feminismus“ zusammengefasst werden konnten.
Zum Glueck haben wir uns aber weiterentwickelt. Diese Probleme sind nicht vollstaendig geløst, aber die Situation ist doch deutlich besser, als noch vor 100 Jahren … ja als noch vor 30, oder gar 20 Jahren … man schaue sich nur an, wie viele Frauen dann doch mittlerweile auf dem Chaos Communication Congress sind!
Aber die Komplexitaet der weiterhin vorhanden Probleme auf diesem Gebiet ist deutlich grøszer als das, was vor 100 Jahren so dringend war. Ich schrieb dazu schonmal was. Und wir benutzen weiterhin den Begriff „Feminismus“ — so wie in „A feminist glaciology framework for global environmental change research“ — obwohl wir eigentlich Dinge meinen, die zwar irgendwie dazu gehøren, aber doch auch vøllig anders sind.
Und das ist ein Dilemma. Denn das Verwenden der alten Begriffe fuehrt zu abweisenden Verhaltensweisen und dem nicht Lesen eigentlich wichtiger Artikel.
Die Autoren des Artikels sind sich dem durchaus bewusst:
We chose the title “feminist glaciology” to provoke discussion about who is producing knowledge about glaciers and what the implications of that existing knowledge are, including whose voices are left out and what types of scientific questions are asked (and which ones might thus be ignored). We also wanted to present a variety of different sociocultural forms of glacier knowledge that go beyond science, to generate discussion. Our goal was to ask questions about the role of gender in science and knowledge—to start a conversation, not conclude the discussion.
Der letzte Satz ist das Wichtige! Denn DAS ist die wissenschaftliche Methode.
Sich ueber etwas lustig machen ist das genaue Gegenteil. Soll diese „Methode“ doch die Anderen zum Schweigen bringen … eine Diskussion also abschlieszen.
Genug! Die 140-Zeichen-Grenze ist weit ueberschritten.
LeSpocky says:
Randnotiz: interessant, dass Du Aristoteles erwähnst in einem Zusammenhang, der mir gerade diese Woche über den Weg gelaufen ist, als ich tatsächlich mal ein Buch (Zen und die Kunst ein Motorrad zu reparieren, dazu an anderer Stelle mehr) gelesen hab. ^^
2016/08/28, 11:12